Vom Alltag mit einem behinderten Geschwisterkind
Geschwisterkinder von behinderten Menschen nennt man manchmal auch Schattenkinder, da sie oft im Schatten der Behinderung ihrer Schwester oder ihres Bruders aufwachsen. Das Handicap des behinderten Kindes zieht viele Ressourcen der Eltern an Zeit und Zuwendung auf sich, so daß alle anderen Familienmitglieder Einbußen erfahren.
Ein Kind mit Behinderung
Mein erstes Kind ist behindert. Schon seit seiner Geburt. Er hat einen genetischen Defekt, ähnlich der Trisonomie 21. Nur eben auf einem anderem Genabschnitt. Die Krankheit klingt spektakulärer als sie es ist: Potoki-Lupski-Syndrom.
Dieses Potoki-Lupski-Syndrom zeigt sich in einer geistigen Behinderung, unter anderem auch mit autistischen Merkmalen. Gregor ist also ein Mensch mit einer Autismus-Spektrum-Störung.
Die ersten Jahre mit Gregor waren schwer für uns Eltern. Und trotzdem wünschten wir uns noch weitere Kinder. Für uns. Um all unsere Elternfähigkeiten und-fertigkeiten genußvoll ausleben zu können. Unser behindertes Kind brauchte davon nämlich gar nicht soviel, wie wir in der Lage waren zu geben. So kamen noch zwei Kinder hinzu.
Gregor lernte mit jedem neuen Baby in der Familie noch einmal von Anfang an mit. Was für ihn sichtlich gut war. Und er rückte aus unserem totalen Eltern-Fokus heraus. Nun konnten wir Eltern gar nicht mehr wie Helikopter über ihm kreisen und seine Behinderung zu unserem alleinigen Lebensinhalt machen.
Die Geschwisterkinder
Aber was ist mit unseren beiden anderen, nicht behinderten Kindern? Sie wurden in eine Familie geboren, in der ein Familienmitglied besondere Fürsorge braucht, dessen Bedürfnisse besondere Beachtung finden.
Ich war zutiefst getroffen, als ich von der Bezeichnung “Schattenkinder” hörte. Im Rahmen eines Interviewssnrach ich mit einem Vertreter des Schattenkinder e.V. in Dresden. Er berichtete mir von schweren Lebenswegen und Beeinträchtigungen, die Geschwister behinderter Menschen erlebt haben.
Diese Geschichten verunsicherten mich sehr. Stehen meine beiden nichtbehinderten Kinder wirklich im Schatten ihres Bruders? Bekommen sie weniger Liebe und Aufmerksamkeit von uns Eltern?
Müssen die beiden jüngeren Kinder, von uns unbemerkt, ein Schattendasein führen?
Familienbilanz
Wir haben also als Eltern Bilanz gezogen und unseren Alltag auf etwaige Schatten durchleuchtet. Unserer Auffassung nach soll jeder in unserer Familie all die Hilfe, Unterstützung und Zuwendung bekommen, die er benötigt. Und das setzen wir um, selbst wenn wir dabei, wie alle anderen Eltern sicherlich auch, schon mal an unsere persönlichen Grenzen kommen.
Es ist organisatorisch aufwändiger, den Therapieplan des einen mit den Freizeitterminen der anderen abzustimmen. Die Logistik ist wahrscheinlich komplizierter, als es in Haushalten ohne einen behinderten Menschen wäre. Und klar, der Alltag mit einem behinderten Kind stellt an uns Eltern schon große Herausforderungen. Die Aspekte von Pflege und Betreuung sind ganz andere, als in anderen Familien.
Gregor ist fünf Jahre älter als unser Zweitgeborener. Ohne seine Behinderung wäre er der Jenige, der uns Eltern bei der Betreuung er kleineren Kinder unterstützen könnte. So ist es nun eben umgekehrt.
Und wir machen anders Urlaub. Abgestimmt auf unserer großen Sohn. Wir fahren nicht in Clubhotels oder große Ferienressorts. Das ist für und mit unserem Autisten nicht wirklich entspannend.
Wir bereisen im Campingbus die Welt. Zu fünft. Da haben wir unser Häuschen mit allen Gewohnheiten und alltäglichen Ritualen dabei und können trotzdem unserer Abenteuerlust fröhnen. Und wir lieben es, uns so als Familie zu erleben.
Unsere jüngeren Kinder lieben ihren großen Bruder. Sie sind diejenigen, die von ihm Gleichheit fordern. Er soll auch den Tisch mit abräumen und seine Aufgaben im Haushalt übernehmen. Notfalls helfen sie ihm und erklären ihm immer wieder gelassen, wie das zum Beispiel mit der Mülltrennung funktioniert. Sie haben keine Hemmungen seiner Behinderung gegenüber, sondern behandeln ihn wie ihresgleichen. Wenn Gregor eben etwas mehr Hilfe im Alltag braucht, dann bekommt er sie, so wie jeder andere auch in ihrem Umfeld.
Wie Eltern beobachten, dass unsere jüngeren Kinder entspannter und offensiver mit dem Thema Behinderung umgehen, als es vielleicht andere Jugendliche tun. Sie schaffen es, hinter dem Handicap den Menschen zu sehen, der eben einfach etwas andere Bedürfnisse und Belange hat.
Eine gute Entscheidung
Nach der Geburt des behinderten Kindes noch zwei weitere zu bekommen, war eine bewußte Entscheidung. Wir brauchten die beiden jüngeren Kinder, um uns als Eltern komplett zu fühlen. Wir lieben alle unsere Kinder gleichermaßen. Natürlich achten wir auch sehr darauf, dass jedes unserer drei Kinder seinen Freiraum bekommt. Wir machen mit jedem von ihnen Dinge, die nur für den Einzelnen bestimmt sind. Mal gemeinsam essen gehen, einen Wunschfilm angucken, einen Freizeitspaß organisieren, auf den die anderen keine Lust haben …
Wir Eltern geben uns auch große Mühe, dass Gregors Behinderung unsere beiden jüngeren Kinder nicht zu sehr fordert. Klar benötigen wir ab und an ihre Hilfe, wenn es um seine Betreuung oder Pflege geht. Wir behalten aber diese Aufgaben ganz bewußt in unserer Hand, denn sie sollen ihren großen Bruder als Bruder erleben und nicht als Bürde oder Last. In wieweit die beiden jüngeren irgendwann einmal in die Vormundschaft für ihren Bruder mit einbezogen werden, dass müssen wir auf uns zukommen lassen. Uns Eltern ist es wichtig, dass die “Kleinen” eine gute emotionale Bindung zu ihrem Bruder haben und so auf sein Wohl achten.
Es war auch eine gute Entscheidung, Gregor mit 18 Jahren in eine Behinderten-WG ziehen zu lassen. Das war der richtige Schritt, um ihm ein von uns unabhängiges Leben zu ermöglichen. Umso mehr freuen sich seine Geschwister, wenn Gregor an den Wochenenden zu uns nach Hause kommt. Alle drei genießen es sichtlich wieder gemeinsam Zeit zu verbringen.
Das Zeitvakuum, welches in unserem elterlichen Alltag entstand, indem Gregor auszog, haben die beiden jüngeren Kinder aber sofort ausgefüllt. Wie alle Kinder genießen sie es nun, sich von Mama und Papa mehr umhuscheln zu lassen.
Unsere Kinder haben alle drei ein gutes Verhältnis zueinander. Sie haben zueinander eine tiefe Bindung und sind ein Team, auch ohne uns Eltern. Die beiden jüngeren sorgen sich um ihren großen Bruder und halten ihn fest im Familiengefüge, mit allem was dazu gehört. Das macht uns Eltern stolz und rührt uns zutiefst. Ich denke, das es sich also nicht generalisieren läßt, dass Geschwisterkinder Behinderter immer im Schatten dieser stehen. Eine Behinderung bedeutet für alle Familienmitglieder und Kompromisse, damit das Familienleben für alle schön und harmonisch ist. Egal, wer das Handicap hat. Und das läßt sich natürlich auch auf unsere Gesellschaft übertragen.
Damit Menschen mit Behinderungen selbstverständlich und ohne Einschränkungen in der Gesellschaft inkludiert sind, braucht es den Willen zu Kompromissen und barrierefreies Denken.
Ich bin mir sicher, dass unsere drei Kinder auf der Sonnenseite der Familie sind. Zusammen. Als Geschwister. Ohne Schattendasein.
Tipps zum Weiterlesen
Die Lebenshilfe hat eine Website für Geschwister von Behinderten hier
Der Schattenkinder e.V. hat auch eine eigene Website hier